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Die Forster Feintuchwerke
Aktualisiert: 9. Sept. 2021
Verwunschene Orte und ihre Geschichte: entdeckt in Brandenburg - das Manchester Deutschlands - Zu Besuch in den Forster Feintuchwerken

Das Manchester Deutschlands – Forst / Lausitz und seine Textilindustrie
Kaum jemand würde in der Südbrandenburgischen Region in der Lausitz das Herz der deutschen Textilindustrie vermuten. Warum auch? Im Stadtbild deuten zwar noch viele Brachflächen auf eineindustrielle Vergangenheit, doch einen lebendigenWirtschaftszweig sucht man hier vergebens. Dabei prägten fast 200 Jahre Textilgeschichte die Stadt und ließen sie im 19. Jahrhundert prosperieren.
Ich sieze sie zuerst. Doch es fühlt sich sofort unnatürlich an. Anett Dörl ist Ur-Forsterin und einepragmatisch-sympathische Frau Mitte 30. Es regnet, ich steige mit meinen Stoffschühchen aus dem Auto. Sie, pünktlich auf die Sekunde wie ich selbst, grüßtherzlich und drückt mir sofort einen Schirm in die Hand, den ich natürlich in Berlin vergessen habe. Ich dürfte ihn auch behalten, wenn ich wollte. Das sagt sie nicht, aber ich weiß es.
Forst/Lausitz ist meine Geburtsstadt und eine 18.000 Einwohner große Grenzstadt. Der Fluß Neiße trennt Deutschland von Polen. Die Beschilderungen sind weisprachig. Forst ist auch die Heimat der Niedersorben und das städtische Eingangsschild zeigt den niedersorbischen Namen Baršć an. 20 Jahre war ich nicht mehr hier. Der Dialekt ist mir sofort vertraut.
Anett Dörl ist gelernte Industriemechanikerin und Geschäftsführerin der Gründer- und Traumfabrik Forst GmbH. Unter dieser Firmierung hat sie ein 16.000 Quadratmeter großes Grundstück gekauft – die ehemaligen Forster Feintuchwerke. Eine Industriebrache, die gewaltig erscheint. 40 dieser Flächen existieren noch in mehr oder minder gutemZustand in der Stadt. Die Feintuchwerke trotzen dem Lauf der Zeit. Das Mauerwerk ist aus Stahl, auf demDach wachsen - typisch für Brandenburg - Birken. Warum, frage ich? Na, weil sie es können und weilBirken sogar auf Brandenburgischem Sand wachsen, also überall, sagt sie.
1844 wurde in Forst die erste Dampfmaschineaufgestellt und ebnete damit die Erfolgsgeschichte in der Industriellen Revolution. Zahlreiche Tuchfabriken sowie Zuliefererbetriebe siedelten sich infolgedessen in der preußischen Kleinstadt an.
Wir laufen an einer rot geklinkerten Villa vorbei, die dem italienischen Fabrikanten Hermann Bergami gehörte und Teil eines ebenfalls rot geklinkerten Areals ist. Zugänglich für mich jedoch ist der gelb geklinkerte Teil von Adolf Noack. Beide Fabrikanten produzierten auf diesem Gelände. Zunächst siedelte sich Bergami an, Noack folgte später. 1876 begann er mit seiner Tuchherstellung auf vier Webstühlen inder Forster Innenstadt. Der Erfolg war groß und sozog es ihn 1884 in seine eigene Fabrikanlage, die er auf diesem Areal baute. Günstig gelegen am Mühlengraben versorgte dieser die Fabrik mit ausreichend Wasser und Energie. Im Laufe der Zeit wurde eine eigene Industriebahn die „Schwarze Jule“ gebaut.
Die Industrie wuchs stetig, bis zum Ende der Dreißiger Jahre produzierte Noack etwa 400.000 Tücher auf 190 Webstühlen. Der Tuchfabrikant Gustav Avellis ließ 1922 ein zentrales Heizkraftwerk errichten, das heute eines von nur drei erhaltenen Heizkraftwerken in Deutschland ist und unter Denkmalschutz steht. Das Werk versorgte in den Zwanziger und DreißigerJahren die Textilfabriken des nördlichen Stadtgebiets mit dem dringend benötigten Heißdampf.

Dann folgten weniger glorreiche Tage. Forst/Lausitz war lagebedingt Schauplatz der Kämpfe im Zweiten Weltkrieg, etwa 80 Prozent aller Gebäude wurden zerstört– viele Freiflächen entstanden durch die Zerstörung. Von über 100 Betrieben überlebten gerade einmal 23. Die Fabriken wurden zu Volkseigenen Betrieben (VEB) und 1969 gliederte die DDR sie in das Textilkombinat Cottbus ein. Mit der Wende 1990 wurde die Produktion komplett eingestellt, Maschinen nach Kambodscha, in die Mongolei und China verkauft, wo immer noch auf ihnen gewebt wird.
„Es haben immer die Mittelständler die Stadt weitergebracht, da muss man nicht auf die Großen warten.“ - Anett Dörl -
Heute verweisen nur noch drei Betriebe auf das große Erbe der Stadt: die Spinnerei Mehler, die sich auf nachhaltige Kleiderproduktion fokussiert, die Forster Vliesstoffe und Textilrecycling GmbH sowie die Posamenten Manufaktur Jende, in der neue Kollektionen auf historischen Maschinen hergestellt, aber auch Möbel gepolstert und in Handarbeit Stoffe und Quasten für viele Schlösser der Umgebung angefertigt werden, darunter auch Schloss Muskau und Schloss Branitz. Noch immer sind Berge von Stoffresten zu finden. Teilweise lässt Anett Dörl sie auch noch für Fotomotive liegen.
Wir erklimmen die Treppe. Ein Waschbär hat es sich hier gemütlich gemacht und markiert das Treppenhaus mit seinen Hinterlassenschaften. Ich muss an die großen Reißzähne des Waschbären in meinem Kreuzberger Hinterhof denken und kann darauf verzichten, dem Zeitgenossen zu begegnen. Da das Nachbargebäude so eng an die Fabrik gebaut war, beschloss Adolf Noack hier noch eine Fliegerhalle auf das fünfgeschossige Gebäude zu setzen. Damals brauchte er das Licht, um eventuelle Webfehler zuentdecken. Heutzutage hat man hier einen fantastischen 360 Grad-Blick über die Stadt. Die Forster Tuchfabrik steht nicht unter Denkmalschutz. Das hat zwar seine Nachteile, verschafft Anett Dörl aber auch etwas Freiraum, um einen bedeutenden Ort der Stadt einerseits zu erhalten, ihn andererseits aber auch mit Leben zufüllen.
Es sei schon beängstigend, wie viele Kneipen, Schornsteine, Häuser es früher gab, wo man heute auf grüne Flächen schaut, sagt sie. Auf Fotos wären 100 Schornsteine und 100 Kneipen zu entdecken, heute hat Forst fünf Schornsteine und 15 Kneipen, wenn man wohlwollend zählt. Anett Dörl möchteauch, dass ihre drei Kinder in einer guten Umgebungaufwachsen. „Und da kannst du noch so sehr Investor sein wie du willst, wenn die Kultur fehlt, werden auch keine jungen Menschen kommen.“, sagt sie.
„Und da kannst du noch so sehr Investor sein wie du willst, wenn die Kultur fehlt, werden auch keine jungen Menschen kommen.“ - Anett Dörl -
Sie könnte sich kleine Gewerbehöfe vorstellen und möchte Handwerk mit Kunst und Kultur verbinden. Mittlerweile ist die Forster Tuchfabrik ein Ort, der hin und wieder für Shootings genutzt wird. Brautpaare ließen sich hier ablichten, DJs schickten Drohnen über das Gelände und legten dazu auf, sogar eine Freifläche für einen Hallenser Graffitikünstler stellte sie zur Verfügung. Auch die Filmindustrie hat bereits angeklopft. Entstehen kann ein Ort, in dem Regionales, Kunst- und Kultur aber auch der Geschichte der Tuchfabrik beheimatet sind. Zum Abschied meint sie: „Es haben immer die Mittelständler die Stadt weitergebracht, da muss man nicht auf die Großen warten.“ Im Stillen denke ich mir "Mittelständler und mutige Idealisten" und bin nachhaltig beeindruckt.
Ich möchte mehr über die DDR-Zeit erfahren und bin verabredet mit Jutta, einer Familienfreundin sowie frühere Meisterin und Werksleiterin des Textilkombinats Cottbus, kurz TKC. Auch hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein, im sehr positiven Sinne. Ich erkenne ihr Haus sofort, wir begrüßen uns freudig. Sie sieht aus wie immer, ich hingegen habe mich schon etwas verändert seit meinen Mädchentagen. Es gibt Kaffee und Kuchen auf goldumrandetem Sammelgeschirr. Ohne nachzudenken hat Jutta alle Jahreszahlen parat. 1969 wurde in Cottbus das Textilkombinat Cottbus (TKC) gegründet mit Zweigestelle in Forst. Nach ihrem Studium zurDiplom-Ingenieurin für Bekleidungstechnik in Berlinholte man sie nach Forst. „Fachrichtung Fügen“, erklärte sie mir die Fachtermini aus der Stoffproduktion. Unterteilt wurde in „Trennen“ (Zuschneiden), „Fügen“ (Nähen) und „Formen“ (Bügeln).
Zunächst wurde sie ein Jahr als Meisterin eingesetzt,dann bot man ihr einen Aktivistenposten an. Aktivisten waren Führungsmitarbeiter, diesogenannte Normuntererfüller unterstützen sollten, um 100 Prozent in der Produktion zu erfüllen. Jutta sprach mit den Menschen, um herauszufinden, ob sie Sorgen und Nöte hatten und zeigte Tricks und Kniffe beim Nähen. Mit Erfolg.
„Ich bin froh darüber, dass ich 1992 gegangen bin. Es ging mir sehr nahe, all die Menschen zu entlassen. Die hatten ja auch Familie und Kinder. Das wollte ich nicht mehr. - Jutta -
Den größten Teil habe sie jedoch als Werksleiterin gearbeitet. Mit der Wende 1989/1990 wurden die Werke Stück für Stück abgewickelt. In dieser Zeit übertrug man dem Werk hauptsächlich die Maßanfertigung neuer Polizeiuniformen. Die Abteilungen wurden nach und nach geschlossen. So blieb die Hoffnung in den übrigen Abteilungen, weiterzubestehen. Das war trügerisch wie sich herausstellte. 1992 war endgültig Schicht im Schach. Rückblickend sagt sie: „Ich bin froh darüber, dass ich 1992 gegangen bin. Es ging mir sehr nahe, all die Menschen zu entlassen. Die hatten ja auch Familie und Kinder. Das wollte ich nicht mehr.“
Es gab Fördergelder für eine kleine Textilproduktionin Cottbus. Jutta stellte nun Öko-Bekleidung für die Boutiquen der Region her. Verkauft wurden vorrangig Leinenstoffe. Selbst die damalige Brandenburgische Ministerpräsidentin Regine Hildebrandt ließ sich hier ihren Maßanzug nähen. „Den hatte sie auch im Fernsehen an, ich hab‘s überprüft“, scherzt sie. Juttas gute Laune ist ansteckend, sie hat nie den Kopf in den Sand gesteckt. Ich frage mich, wievielen hochqualifizierten Arbeitskräften es wohl ähnlich erging. Nachdem die Fördergelder ausblieben, schloss auch die kleine Produktion in Cottbus.
Jutta fasste beruflich nie wieder richtig Fuß und rettete sich in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) bis zu ihrer Rente. Die beiden Treffen hallen nach während ich wieder im Auto nach Berlin sitze. Die Geschichte von Forst ist auch ein Teil der deutschen Geschichte: Von der Industriellen Revolution über die beiden Weltkriege bis hin zur DDR-Geschichte. Forst und seine Bewohner mussten viel durchstehen. Den Gedanken von Anett Dörl aufgreifend, wünsche ich der Region einen starken selbstbewussten Mittelstand. Projekte wie das der Forster Feintuchwerke lassen mich optimistisch in die Zukunft blicken.
Christina Martin